Zurück in die Kindheit. Asia Argentos „Incompresa“ (Missverstanden).

Erinnerungen sind so vielfältig wie trügerisch. Wer mithilfe seines Foto- und Poesiealbums in die eigene Vergangenheit namens Kindheit und Jugend zurückreist, entdeckt am liebsten nur die schönen, lustigen, manchmal ein bisschen peinlichen Episoden dieser Zeit wieder.

Abseits von entstellenden Zahnspangen, Topfschlagen und Flaschendrehen oder dem von Jungen wie Mädchen gefürchtetem Stehblues auf der Klassenparty gibt es jedoch Erlebnisse, die wir lieber in die hinterste Schublade des Oberstübchens einsortieren.

Von solch ernsteren Härten des Großwerdens erzählt nun Asia Argento, Tochter von Regielegende Dario Argento und Schauspielerin Daria Niccolodi, in ihrem neuen Film „Missverstanden“ und reiht sich damit in eine lange Erzähltradition der Literatur und des Kinos ein.

Der Schriftsteller Charles Dickens zum Beispiel widmete sich in Romanen wie „Oliver Twist“ oder „David Copperfield“ dieser kürzesten Lebensphase, die im 19. Jahrhundert für viele Kinder von Gewalt und Armut geprägt war. Seine Schilderungen trauriger Kinderbiographien wurden immer wieder im Kino aufgegriffen.

Aber auch im 20. Jahrhundert sah der Alltag kleiner Menschen nicht immer rosig aus.

François Truffauts „Sie küssten und sie schlugen ihn“ (OT „Les Quatre Cents Coups“, 1959) zeigt die Nachkriegs-Kindheit des Antoine Doinel in der Abwesenheit gefühlskalter Eltern. In Roland Klicks Horrorversion einer Familiengeschichte mit dem zärtlichen Titel „Bübchen“ (1968) sieht die Situation des kleinen Achim, rund zehn Jahre später in der wohlhabenden BRD, nicht viel besser aus. Die vergnügungssüchtigen Eltern überlassen den Jungen im Grundschulalter und dessen einjährige Schwester sich selbst. Mit Liebe hat das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern nichts zu tun.

Wie die Zukunft dieser Kinder aussehen könnte, bleibt im Fall von Klicks „Bübchen“ der Fantasie des Zuschauers überlassen. So auch in Asia Argentos „Missverstanden“ (2014), in dem die neunjährige Aria (Giulia Salermo) um die Liebe und Aufmerksamkeit ihrer Eltern (gespielt von Charlotte Gainsbourg und Gabriel Garko) kämpfen muss.

Die Handlung ist im Italien der 1980er-Jahre angesiedelt und wer in dieser Zeit selbst Kind war, kann sich problemlos mit der Lebenswelt von Aria identifizieren. Düstere New-Wave-Songs bilden den Soundtrack zum Leben des Mädchens, das auch wegen seiner spindeldürren Figur in den modisch übergroßen Sweatshirts zu versinken droht.

Arias Mutter ist eine zickige Pianistin, der Vater ein ebenso selbstverliebter wie aufbrausender B-Filmstar. Obwohl die Eltern kurz vor der Scheidung stehen und deshalb nur mit sich selbst beschäftigt sind, genießen Arias Halbschwestern, die aus früheren Ehen der Eltern hervorgegangen sind, jene Fürsorge, die Aria sich vergeblich wünscht.

Argento zeigt die alltäglichen kleineren und immer größer werdenden Demütigungen, die Aria zuhause sowie in der Schule erlebt und die ein mentales Überleben des Mädchens fast unmöglich erscheinen lassen. Trotzdem steckt viel Humor in der Geschichte, weil Asia Argento sie beinahe wie ein modernes Märchen, allerdings ohne Happy-End, erzählt. Aria ist ein zerbrechliches wie lebenskluges Aschenputtel, das mit einer Streunerkatze im Gepäck zwischen den Wohnungen der getrennt lebenden Eltern hin- und herpendelt, ohne Aussicht, jemals bei ihnen anzukommen. Wie Aria an den Erfahrungen wachsen oder endgültig zerbrechen könnte, wäre (wie im Fall von Truffauts Antoine Doinel) mindestens eine Fortsetzung wert.

„Missverstanden“ ist am 29.01.2015 in den deutschen Kinos angelaufen.

Regie: Asia Argento. Mit Charlotte Gainsbourg, Giulia Salerno, Anna Lou Castoldi, Gabriel Garko. Ab 12 Jahren.

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Ein Fan als Filmemacher

Manche Menschen haben merkwürdige Hobbys. Auch die große Masse der Kinofans zum Beispiel ist bei genauerem Hinsehen nicht homogen, sondern zerfällt in einzelne Splittergruppen die – von außen betrachtet – merkwürdigen Vorlieben frönen. Einmal im Jahr findet etwa für die Liebhaber des vom Aussterben bedrohten 70 Millimeter-Formats ein eigenes Festival im englischen Bradford statt.

Der Stuttgarter Filmkritiker Wolfram Hannemann ist selbst ein Fan dieses ungewöhnlichen Formats. Was der normale Kinogänger heute nicht mehr kennt, versetzt ihn in Begeisterung.

In seiner gerade auf Blu-Ray erschienenen Dokumentation „Remembering Widescreen“ geht Wolfram Hannemann dem Fan-Phänomen auf den Grund und lässt das Festivalpublikum zu Wort kommen, das über die eigenen Seherlebnisse, die Vergänglichkeit des Trägermediums und über den demographischen Wandel in den eigenen Reihen spricht.

Dabei geht es weniger um Geschichte, Technik und Ästhetik des 70 Millimeter-Formats, in dem Klassiker wie „Hello, Dolly“ (Gene Kelly, 1969) oder  Henry Kosters Bibelfilm „The Robe“ (1953) projiziert wurden.

Die freundlichen älteren Herren, denen Hannemann mit seiner Kamera begegnet, erzählen begeistert von ihrer persönlichen Liebe zum Kino und halten die Erinnerung an eine Ära wach, die im Zeitalter der Multiplexe und aufgerüsteter Heimkinos weitgehend Geschichte ist.

Wer an diesem lebendigen Gedenken selbst einmal teilhaben möchte, kann zum jährlich stattfindenden Festival nach Bradford oder zum deutschen Ableger im badischen Karlsruhe fahren:

http://www.nationalmediamuseum.org.uk/BradfordInternationalFilmFestival/WidescreenWeekend/2014/Introduction

http://www.filmvorfuehrer.de/topic/20965-traeume-in-technicolor-4-widescreen-festival-schauburg-cinerama-karlsruhe/

Die Blu-Ray „Remembering Widescreen“ kann außerdem direkt über den Filmemacher bezogen werden:

http://www.remembering-widescreen.de

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Interview Hélène Cattet /Bruno Forzani: „Der Tod weint rote Tränen“

L‘ étrange Couleur des larmes de ton corps“ heißt der zweite Spielfilm des Regieduos Bruno Forzani und Hélène Cattet. Ihr Erstling „Amer“, erschienen 2010, war eine bildgewaltige Hommage an die Giallo-Streifen der sechziger und siebziger Jahre. Auch mit ihrem aktuellen Film greifen Cattet und Forzani ästhetische und erzählerische Mittel des italienischen Thriller-Subgenres auf, das durch Regisseure wie Mario Bava und Dario Argento geprägt wurde.

Das folgende Interview fand im Spätsommer 2014 in Stuttgart statt, wo das Paar seinen Film beim Fantasy Film Fest vorstellte. Cattet und Forzani sprechen über ihre Faszination für das Giallo-Genre, über die Bedeutung der Musik und warum Bilder manchmal mehr als Dialoge sagen.  Weiterlesen

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Vorhang auf …

… Film ab: Heute rattert „last exit kino“ erstmalig durch den Projektor.

Entsprechend dem Malteserkreuz-Mechanismus wird es in der Folge nicht kontinuierlich, vielmehr ruckhaft vorangehen: Immer mal wieder stelle ich in diesem Blog eigene Texte rund um Kino & Film online.

Kathrin Horster

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